meinen gestrigen Friseurbesuch in Stuttgart-Untertürkheim nutzte ich für die Premiere der (von mir so genannten) Silverladies, die mir die Frau Glässel vom Samanta-Shop kulanterweise von 43 in 42 getauscht hatte. In 42 sitzen sie "besser" am Fuß und schlapfen nicht an den Fersen.
Vom Salon zur S-Bahn-Station ist es nicht weit; es geht ein bisschen abwärts über Kopfsteinpflaster an Straßencafés vorbei, wo Leute sitzen, die soetwas noch nie gesehen haben, aber schweigen.
Ganz im Gegensatz zu dem Schwarm Jugendlicher, die aus der Unterführung hervorquollen und unter dem alten Bahnhofsdach an mir vorbeieilten. Die Traube hatte sich schon ohne Zwischenfall verlaufen - und ich machte mich am Fahrkartenautomaten zu schaffen - als ich eine Stimme hörte:
"Ey! Darf ich Foto machen?"
Ich wandte mich um, und da stand ein etwa untersetzter Jüngling in Schwarz, fluchtbereit schon an der Tür, in der seine Kumpels bereits verschwunden waren.
Freundlich rief ich "Klar!" und kam auf ihn zugestöckelt.
Er? Konnte sein Glück nicht fassen und trommelte seine Kumpels zurück. Und dann kamen sie herbeigezögert, drei an der Zahl, höchstens siebte Klasse, schon mit dem coolen Mehltau im Blick, der sie von Kindern unterscheidet: drei Käppi-Prinzen mit Migrationshintergrund und erstem Oberlippenflaum - und einer hatte sich ein Herz gefasst und mich angesprochen. Das erfordert Mut, und Mut unterstütze ich. Und stellte mich in Positur, denn da war ein Blumenkübel. Der in Schwarz stellte sich neben mich - sein eigener Mut schien ihm plötzlich nicht mehr recht geheuer zu sein -, sein Kumpel zückte das Phone, und nach ein paar Sekunden war's das?
Nein, das war es noch nicht. Denn nun stellte der Mutige mir eine Frage, und er stellte sie ganz sachlich und ehrlich interessiert, mit wachem Blick aus seiner Welt in meine:
"Sind Sie schwul?"
(Also gut. Eigentlich geht's ihn nix an, aber darum ging's in dem Moment nicht. Wäre er erwachsen gewesen, hätte ich etwa gesagt: "Weiß zwar nicht, was das zur Sache tut, aber wenn das ein Angebot sein soll, könnte man ja verhandeln." Aber das ging nicht; es hätte die Situation gesprengt und den Mutigen vor seinen Kumpels in eine unangenehme Lage gebracht; das wäre ein mieser Lohn für seinen Mut gewesen. Die Wahrheit zu sagen ging aber auch nicht, denn "die Mehrheiten waren nicht so, dass sie die Wahrheit vertragen hätten", um mit Egon Bahr zu sprechen ...)
Folgte mein Konter, das Schuhe keinen Hinweis auf sexuelle Orientierung geben, und dass ich einige Leute kenne (euch hier im Forum!), die alles andere als schwul seien und dennoch diese Schuhe tragen, weils ihnen einfach Spaß macht. Das war für die drei schwer zu glauben,sie staunten sehr, als sie davon hörten. Es ging noch ein Weilchen auf dieser Ebene weiter, bis derjenige noch eine Frage stellte, der die Fotos gemacht hatte.
Und mit dieser Frage kam der LGBT-Themenkomplex in seiner ganzen anonymen Trostlosigkeit hoch, denn es ist ja so: Da werden Jungs in diesem Alter, die aus Elternhäusern stammen dürften, in denen der Pascha das Sagen und das Weib sich in der Öffentlichkeit drei Schritte hinter selbigem zu halten hat, rund um die Uhr mit Regenbogenfahnen, Manuel Neuer, dem farbigen Fußballstadion undsoweiterundsoweiter konfrontiert, und es geht um etwas, das gesichtslos bleibt, anonym eben, und in ihrer Welt nicht vorkommt und nicht stattfindet oder eben doch vorkommt und durchaus stattfindet und in suchenden Seelen für Verwirrung sorgt.
Und nun steht "einer von denen" endlich vor ihnen, lebt, ist freundlich und - tja: vertrauenerweckend irgendwie. Und endlich kann man mal seine Fragen stellen.
Die Worte, die er dafür wählte, hätten in die Ohren seiner Deutschlehrerin gehört. Haben Sie das vernommen, gnädige Frau? hätte ich gesagt, wenn sie dabeigestanden hätte. All ihre Bemühungen, diesen Jungs etwas mehr als ein paar Brocken Deutsch beizubringen, sie waren nicht vergebens! Die vielen staubigen Grammatikstunden, die vielen Fremdwörter, die vielen katastrophalen Klassenarbeiten - all das, gnädige Frau, war nicht vergebens. Hören Sie genau hin!
"Welches Pronomen haben Sie?"
Wirklich so, Leute, wirklich! So wahr ich auf meinen Pumps unterm Untertürkheimer Vordach gestanden habe: das hat er so gefragt!
Ich brauchte eine Sekunde.
Die nutzte der kleine Dicke in Schwarz für eine mit wellenfömigen Handbewegungen begleitete Ausführung, dass "heute ja alles gleich sei, Mann, Frau, Trans ...,also wie man mich ansprechen müsse, er, sie ?"
Ich war hingerissen.
Erläuterte dann aber, dass ich ein "ganz normaler Cis-Mann" sei, der eben diese Schuhe trägt, that's all. Ich weiß nicht, ob er den Begriff "Cis-Mann" verstanden hat, aber da er den Begriff "Trans" verwendet hat, habe ich das in den paar Sekunden, die diese ganze Begegung insgesamt gedauert hat, einfach unterstellt. Ich wollte nicht zu sehr in die Tiefe gehen und am Unterscheid zwischen "sexueller Identität" und "sexueller Orientierung" rumdröseln. Schließlich wollten die Jungs weiter. Instagram hamse nicht ...
Um die Zukunft unseres Landes ist mir nicht bange, wenn solche Jungs eines Tages ihren Platz in der Gesellschaft finden werden: Mögen sie auch in Zukunft Mut haben, wenn sie ihn brauchen, und sich präzise ausdrücken können, wenns drauf ankommt.
Die drei haben mir jedenfalls viel zu denken gegeben. Euch auch?
Frohen Gruß Zypper
"Wirf deine Angst in die Luft." (Rose Ausländer) "Ich setzte den Fuß in die Luft - und sie trug." (Hilde Domin)
Und für alle, die immer nur (mit offenem Mund) hinterhergucken, aber nie was sagen, einfach mal zugerufen: "Trinkt, o Augen, was die Wimper hält/von dem goldenen Überfluss der Welt!" (Gottfried Keller)
"Frauenschuhe? Weißt du, was Frauenschuhe sind? Weiße Sneaker, das sind Frauenschuhe! Schau dich mal um!"
Wahrscheinlich ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten bis die Heranwachsenden die Unterschiede der Identitäten und Orientierungen verstanden haben. Leider haben auch viele Erwachsene da noch Defizite...
Lieber mal stolpern als auf einen Zentimeter zu verzichten...
Respekt dafür, wie DU Dich geschlagen hast! Und auch Lob und Anerkennung für die jungen Herren, den Mut aufzubringen, Dich zu fragen und nicht einfach nur kichern und heimlich Foto machen.
Ob das von großem Erfolg gekrönt ist und sie in ihren Kreisen die Kunde weitertragen "Es gibt CIS-Männer, die hetero sind und dennoch High Heels tragen!" Wer weiß?
Ich habe immer den Eindruck, dass es für den Moment aufgenommen und scheinbar verstanden wird, es aber dennoch nicht ins Weltbild passt.
"Guck mal der Typ mit den Heels, der ist doch schwul!" "Frag mal" "Guten Tag, sind sie schwul?" "Nein." "Okay, danke." "Der sagt, der ist nicht schwul." "Okay, frag den nächsten!"
=> glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast!
Mir geht es auch so, wenn ich von der Jugend halbwegs korrekt angesprochen werde, dann bin ich immer gern bereit Auskunft zu geben oder auch neugierige Fragen zu beantworten.
Es muss immer ein Mindest-Respekt da sein. Diesen bringe ich ich ja auch durch meine Kinderstube den anderen entgegen und so erwarte ich ihn auch.
Ob dann am Ende alle die gleiche Meinung haben ist unwichtig.
Klar hilft es, wenn man mit seiner Frau unterwegs ist, da schauen die Leute wenn überhaupt. Wenn man allein unterwegs ist, dann entstehen solche Situationen, die bestmöglich so wie bei Dir ablaufen.
Ganz wunderbar aufgenommen, @Zypper ! Es ist ja tatsächlich sehr positiv bemerkenswert, dass sich die Jungs getraut haben zu fragen, und dann auch noch nach- bzw. weiterfragen. Ich finde, das hast du elegant gelöst. Das gibt wirklich Hoffnung auf die nachfolgende Generation, wenn sich Jungs trauen mit anderen zu sprechen übers Anders-sein.
ich musste Deine Story mehrfach lesen um das Bild zusammenzukriegen, dass Du gezeichnet hast, und um ein Gefühl dafür zu bekommen wie sich das Szenario entwickelt hat. Respekt an die Jungs, die es gewagt haben, so ein emotionales Thema anzusprechen, hätte auch nach hinten losgehen können. Und Respekt an Dich Zypper, der so suverän damit umgegangen ist. Da ist bestimmt ein Stück Lebenserfahrung bei allen beteiligten Protagonisten hängen geblieben.
Untertürkheim kennt mich noch nicht hochhackig. So im allgemeinen habe ich den Eindruck, dass die Menschen im Großraum Stuttgart schon recht aufgeschlossen sind.
Ich finde, wenn sich jemand traut zu fragen, dann gehört es zum Anstand, dass man die Frage auch freundlich beantwortet. Gerade wenn sich jemand schon fast in die Hose macht deswegen, kann man ihn mit einem netten Smalltalk belohnen. Ein hinterhergerufenes "ey bist du Schwul?" gehört da natürlich nicht dazu.
Also das werde ich mir künftig sehr gut überlegen, ob ich - wie gestern gegen 23 Uhr - auf dem U-Bahnsteig am Charlottenplatz in den Silverladies noch mal so einen Sprint hinlege, um's Bähnle zu erreichen. Völlig ungeübt in dieser Disziplin, gab es vom gegenüberliegenden Bahnsteig unüberhörbares Gejohl. Das hätte sich gewiss in Szenenapplaus ausgeweitet, wenn ich mich tatsächlich auf die Fresse gelegt hätte, tsts. Knapp genug war's ja ...
Ich lache immer noch ...
Grüßle Zypper
"Wirf deine Angst in die Luft." (Rose Ausländer) "Ich setzte den Fuß in die Luft - und sie trug." (Hilde Domin)
Und für alle, die immer nur (mit offenem Mund) hinterhergucken, aber nie was sagen, einfach mal zugerufen: "Trinkt, o Augen, was die Wimper hält/von dem goldenen Überfluss der Welt!" (Gottfried Keller)
"Frauenschuhe? Weißt du, was Frauenschuhe sind? Weiße Sneaker, das sind Frauenschuhe! Schau dich mal um!"
dein Motto kam mir später in den Sinn, ohne, dass ich es zuordnen konnte (man liest ja so viel ...) Jetzt kann ichs! Es ist so wahr!
Grüßle Z
"Wirf deine Angst in die Luft." (Rose Ausländer) "Ich setzte den Fuß in die Luft - und sie trug." (Hilde Domin)
Und für alle, die immer nur (mit offenem Mund) hinterhergucken, aber nie was sagen, einfach mal zugerufen: "Trinkt, o Augen, was die Wimper hält/von dem goldenen Überfluss der Welt!" (Gottfried Keller)
"Frauenschuhe? Weißt du, was Frauenschuhe sind? Weiße Sneaker, das sind Frauenschuhe! Schau dich mal um!"
Ca 5jähriges Mädchen (Typ: Strahlen im Kopf) steigt mit der Mama ein und hockt mir gegenüber. Mustert mich (geschmückt, bestöckelt und ungeschminkt, mit Sonnenbrille) scharf, aber stumm. Die Mutter steht lächelnd und schweigt weise.
Umstieg Charlottenplatz. Die beiden direkt hinter mir auf der Rolltreppe.
Das Mädchen fragt sich laut: ob das nun ein Mann oder eine Frau sei, da vor ihr? Die Mutter (souverän, unaufgeregt): Dass man a) mich das schon fragen müsse und dass es b) auch noch etwas "dazwischen" gebe. Das Mädchen: Ach so. Und gibt sich völlig zufrieden. Kommentar meinerseits: überflüssig.
Salut für so eine Mutter!
Frohen Gruß Zypper
"Wirf deine Angst in die Luft." (Rose Ausländer) "Ich setzte den Fuß in die Luft - und sie trug." (Hilde Domin)
Und für alle, die immer nur (mit offenem Mund) hinterhergucken, aber nie was sagen, einfach mal zugerufen: "Trinkt, o Augen, was die Wimper hält/von dem goldenen Überfluss der Welt!" (Gottfried Keller)
"Frauenschuhe? Weißt du, was Frauenschuhe sind? Weiße Sneaker, das sind Frauenschuhe! Schau dich mal um!"
"Wirf deine Angst in die Luft." (Rose Ausländer) "Ich setzte den Fuß in die Luft - und sie trug." (Hilde Domin)
Und für alle, die immer nur (mit offenem Mund) hinterhergucken, aber nie was sagen, einfach mal zugerufen: "Trinkt, o Augen, was die Wimper hält/von dem goldenen Überfluss der Welt!" (Gottfried Keller)
"Frauenschuhe? Weißt du, was Frauenschuhe sind? Weiße Sneaker, das sind Frauenschuhe! Schau dich mal um!"